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Eine Geschichtsstunde mit der AfD

DATUM

Wie Oliver Kirchner Demokratie- und Diktaturgeschichte umdeutet

Aus Anlass des 90. Jahrestages der Zustimmung des Reichstages zum Ermächtigungsgesetz fand heute eine aktuelle Debatte im Landtag von Sachsen-Anhalt statt. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Oliver Kirchner bediente sich dabei jener rhetorischen Mittel und Strategien, die die AfD seit ihrem Einzug in den Landtag im Jahr 2016 wieder und wieder anwendet: dem Wechselspiel zwischen Provokation und einem wohl kalkuliertem Tabubruch. Dabei wird wieder und wieder auf Ideologie und Geschichte des Nationalsozialismus zurückgegriffen – von André Poggenburgs Weihnachtsgrüßen an die „Volksgemeinschaft“ bis zu Kirchners jüngster Verwendung eines Goebbels-Zitats.

Kirchner führte heute u.a. aus: „Letztendlich war es Ihre SPD, wo ich nur noch drauf gewartet habe, dass in der Corona-Krise den Ungeimpften die Staatsbürgerschaft entzogen würde. Denn die Freiheit haben Sie den Leuten zu dieser Zeit ja schon genommen.“ Pandemie-bedingte Einschränkungen der Gegenwart werden hier in den Zusammenhang mit dem Freiheitsentzug im Jahr der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ und der NS-Diktatur gerückt. Kirchner suggeriert, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, also die durch die Nazis praktizierte Ausbürgerung politischer und weltanschaulicher Gegner*innen, habe im Horizont der potentiellen Maßnahmen im Kontext der Corona-Krise gestanden. Solche Gleichsetzung wird bewusst impliziert aber nicht explizit ausgesprochen.

Die Parallelisierung heutiger politischer Maßnahmen mit der Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus erfüllt für die AfD zwei Funktionen: Zum einem dient sie der Relativierung des totalitären und terroristischen Charakters der NS-Herrschaft und seiner politischen Maßnahmen. Zum anderen nutzt die AfD sie, um sich als einzig verbliebene demokratische Kraft zu inszenieren, die den Mut aufbrächte, den Corona-Maßnahmen zu widersprechen.

Ähnlich verfährt Kirchner auch, wenn er die Biografien jener SPD-Funktions- und Mandatsträger verliest in der parlamentarischen Vergangenheit der alten Bundesrepublik verliest, die zuvor NSDAP-Mitglieder gewesen waren. Kirchner stellt damit die SPD als Partei in die Kontinuität des Nationalsozialismus. Zugleich präsentiert er die AfD als einzige Partei ohne NS-Vergangenheit, um ihr Agieren in der Debatte anlässlich des Gedenkens an die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes moralisch zu legitimieren und sie als Erbin des standhaften SPD-Reichstagsabgeordneten Otto Wels zu inszenieren. Folgerichtig stellt Kirchner sodann die Behauptung auf, Otto Wels wäre heute Mitglied der AfD – eine ahistorische und dreiste politische Anmaßung, vor allem mit Blick auf den Umstand, dass der AfD-Fraktionsvorsitzende als Bewunderer des Antidemokraten Paul von Hindenburgs bekannt ist.

Kirchner fährt in seiner Inszenierung fort und verortet – sattsam bekannte Behauptungen der extremen Rechten aufgreifend – die NSDAP im politischen Spektrum der Arbeiterbewegung. Als vermeintlichen Belegt zitiert er ausgerechnet Josef Goebbels und löst damit im Plenum des Landtags erwartbar Empörung aus. Bewusst positioniert sich Kirchner gegen alle unstrittigen Analysen über den antimarxistischen, antiliberalen und autoritären Charakter des Nationalsozialismus.

Doch damit ist die AfD noch nicht am Ende ihrer Provokationen in der Tradition des Rechtsextremismus angelangt. Ihr Fraktionsvorsitzender positioniert sich auch zur Debatte über das Gedenken und erinnern: „Und wir müssen die Vergangenheit auch einmal vergehen lassen.“ Damit nimmt er Bezug auf den Historikerstreit, der 1986 unter dem Leitwort „Vergangenheit die nicht vergehen will. Vergangenheit, die nicht vergeht“ geführt wurde. Kirchner lässt hier die in seiner Partei zentrale Forderung nach einem „Schlussstrich“ für die historische Aufarbeitung anklingen. Zugleich setzt er erneut den heutigen deutschen Staat in eine totalitäre Tradition, in dem er dem Verfassungsschutz aufgrund seiner Beobachtung der AfD Gestapo- und Stasi-Methoden vorwirft.

Fazit zum heutigen Tag: Der AfD-Fraktionsvorsitzende Oliver Kirchner nimmt die Debatte zum Jahrestag des Ermächtigungsgesetzes zum willkommenen Anlass, wohl kalkulierte Tabubrüche und Provokationen in Szene zu setzen. Die bewusste Verfälschung historischer Kontexte sowie die moralische und politische Anmaßung, die in seiner Rede zum Ausdruck kommen, stehen in der Tradition der Praxis der ersten AfD-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt von 2016-2021, die unter André Poggenburg Tabubrüche regelrecht inszenierte, um in der Öffentlichkeit zu polarisieren, die AfD als demokratische Partei darzustellen und die Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus mit heutigen politischen Gegebenheiten in eins zu setzen.