Die gesellschaftliche Polarisierung und die Radikalisierung von „Querdenken“
Querdenken“ war als soziale Bewegung in den Sommer- und Herbstmonaten 2021 nahezu zum Erliegen gekommen. Interne Streitigkeiten um Führung, Deutungshoheit und Geld, vor allem aber das temporäre Abflauen der Pandemie hatten zu einem Verlust an Dynamik geführt. Die aktuelle Situation im Verlauf der 4. Welle der Corona-Pandemie führt jedoch zu einer erneuten und verschärften Polarisierung der öffentlichen Debatte um staatliche Gegenmaßnahmen und deren Auswirkungen. Zugleich trägt sie zur verstärkten Mobilisierung für die Proteste von „Querdenken“ und Impfgegner*innen bei. So hatten sich in den letzten Tagen an verschiedenen Orten Hunderte von – teils erheblich aggressiven – „Querdenker*innen“ versammelt.
Die jüngsten Einschränkungen im Alltag für ungeimpfte Personen erzeugen einen – politisch offenbar durchaus intendierten – Druck sozialer Konformität hinsichtlich des Gesundheitsschutzes, der individuelle und kollektive Prozesse der Radikalisierung bei „Querdenken“ und deren Umfeld weiter befördern kann. Impfgegner*innen aller Couleur deuten die notwendigen Einschränkungen im Alltag als Diskriminierung und Exklusion von der gesellschaftlichen Teilhabe. Insbesondere bei radikalen „Querdenker*innen“ und Verschwörungsgläubigen hat sich die Auffassung verfestigt, einer stigmatisierten und ausgegrenzten Gruppe anzugehören.
Das kontrovers diskutierte Agieren der Politik sowie die weit verbreitete Wahrnehmung ihres Handelns in der Pandemie als inkonsistent und widersprüchlich stärkt die autoritär-regressiven Narrative von Querdenker*innen, Esoteriker*innen und Reichsbürger*innen, wonach sich die gesellschaftlichen Eliten nicht mehr nur von der Mehrheit der Menschen im Land abgewandt hätten, sondern ihnen aktiv und planvoll Schaden zufügen wolle. Dagegen helfe nur eine sich vom Staat lösende Selbstorganisation, die sich in einer Selbstermächtigung und im Bruch mit den Konventionen der Zugehörigkeit vollziehen müsse. Die in Ostdeutschland verbreitete, mit zeitgeschichtlichen Argumenten munitionierte Abwehr exekutiver Handlungsabläufe und Mechanismen politischer Entscheidungen interpretiert das „Querdenken“-Milieu als obstruktive Zumutung. Diese Wahrnehmung wiederum wird mit rhetorischen und inhaltlichen Verweisen auf vermeintliche Erfahrungen in der DDR garniert.
Die gegenwärtige Situation bietet auch bundesweit Ansatzpunkte für eine Wiederaufnahme der politischen Dynamik und Mobilisierung von „Querdenken“, welche die Debatte um den Charakter einer Impfpflicht stärker akzentuiert, und zugleich mit Argumentationsmustern ergänzt, die die Diktatur-Rhetorik des vergangenen Jahres zu bestätigen sucht. Dabei geht es nicht nur diffus um konkrete Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Der Protest hat sich inzwischen zugespitzt und zielt auf eine Entmachtung der politischen Eliten. Bei öffentlichen Aktionen und in einschlägigen Internet-Foren lässt sich inzwischen ein Anschwellen alarmistischer Stimmungsmache konstatieren.
Damit einher geht eine deutliche Zunahme der Aggressions- und Gewaltbereitschaft im Kontext der Durchsetzung und Kontrolle der geltenden Regeln und Maßnahmen im öffentlichen Raum. Das Gewaltpotential ist sowohl situativ-individuell, als auch direkt politisch-ideologisch motiviert. Es kann sich aus der Dynamik einer Kontrollsituation entwickeln, oder eine Form planvoller, ideologisch motivierter Gewalt annehmen. So ist in den letzten Monaten die Zahl direkter Angriffe auf Impf- und Testzentren sowie gegen medizinisches Personal, Berufstätige in der Dienstleistungsbranche und Journalist*innen deutlich gestiegen. Trauriger Höhepunkt ist hierbei zweifellos der Mord am 18. September 2021 in Idar-Oberstein. Dort hatte ein 49jähriger Mann einen jungen Tankstellenmitarbeiter erschossen, nachdem dieser ihn aufgefordert hatte, im Geschäft eine Maske zu tragen. Da es auch nach dieser schockierenden Tat im Milieu der „Querdenker*innen“ zu keinem spürbaren Versuch einer verbalen Abrüstung kam, ist von einer weiteren Eskalation auszugehen. Zugleich werden Radikalisierung und Gewaltbereitschaft des „Querdenken“-Milieus und seiner Proteste von Politik und Gesellschaft häufig unterschätzt. Stattdessen überlässt man ihm den öffentlichen Raum und wertet ihre Position medial auf. Nicht nur in Sachsen hat die Polizei in den letzten Monaten fatale Signale der Kapitulation gesendet.
Wie aber sollen Verkäufer*innen oder Zugbegleiter*innen die geltenden Regeln durchsetzen, wenn der Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, sein Gewaltmonopol und seine eigenen Verordnungen auf der Straße zu verteidigen? Temporär sind hier staatlich mehr oder weniger geduldete „Räume eigenen Rechts“ entstanden. Dadurch verbreitet sich in bestimmten Regionen das Gefühl, dass die politischen Verhältnisse nicht mehr stabil seien. Eine lautstarke Minderheit zieht daraus ihr Selbstbewusstsein. Die darüber besorgte Mehrheit aber, die selten eine Stimme hat, kann dadurch dauerhaft entmutigt werden. Wir erleben aktuell, wie zwei Prozesse sich gegenseitig verstärken. Soziologisch lässt sich das als „rekursive Destabilisierung“ beschreiben: Die Radikalisierung der Proteste trifft auf die teilweise Erosion demokratischer, ordnungsdurchsetzender Institutionen.
Die diskursive Aufwertung durch beständige Repräsentation der „Querdenken“-Bewegung und ihrer Argumente in einem Teil der medialen Öffentlichkeit hat nicht zu einer Deeskalation der Diskurslage geführt. Wie schon bei „PEGIDA“ oder den Wahlerfolgen der AfD greifen dadurch Verstärkereffekte, die die Reichweite von „Querdenken“ erhöhen und zugleich stabilisieren. Die Wirkung eines politisch aufgeladenen Irrationalismus der – resistent gegen faktische Einsprüche – an subjektiven Wahrnehmungen festhält, bedarf einer ideologiekritischen Dekonstruktion und Analyse. Der Ansatz, einander widerstreitende Auffassungen zum Charakter der Pandemie dialogisch zusammenzuführen oder zu befrieden, ist im Angesicht des gefährlichen Ausmaßes der 4. Pandemie-Welle an seine Grenzen gekommen.
David Begrich, Torsten Hahnel, Dr. Alexander Leistner, Pascal Begrich