Anekdoten mit zeitgeschichtlichem Hintersinn konnte er wie kein zweiter erzählen: Hans-Jochen Tschiche. Vor zehn Jahren starb der Mann, der zu Zeiten für Demokratie eintrat, als dies nichts weniger als einen Aufenthalt im Gefängnis kosten konnte. Wie kaum ein Zweiter hat er die ostdeutsche Demokratie -und Bürgerbewegung geprägt.
Tschiche war ein Mutmacher in einer mutlosen Zeit. Er protestierte gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“, setzte sich für Versammlungs- und Pressefreiheit in der DDR ein. In den bleiernen 1980er Jahren suchte er gemeinsam mit Menschen aus der oppositionellen Friedens- und Umweltbewegung Auswege aus dem gesellschaftlichen Stillstand. Für diese Gruppen unter dem Dach der Evangelischen Kirchen war er durch Veranstaltungen wie „Frieden konkret“ ein wichtiger inhaltlicher Impulsgeber. Die Evangelische Akademie war unter seiner Leitung ein Forum des offenen Austauschs und der Meinungsbildung unter den Bedingungen einer Diktatur. Früh beschäftigte sich Tschiche mit Fragen der ökologischen Situation in der DDR.
Seine politische Stunde schlug im September 1989 als einer der Mitbegründer des „Neues Forums“. Tschiche sprach in der Zeit des Umbruchs auf zahllosen Veranstaltungen, stieß die Auflösung des MfS mit an und sorgte so mit dafür, dass die SED Herrschaft zu Ende ging. Als Abgeordneter der frei gewählten Volkskammer wurde er einer der Gründerväter der parlamentarischen Demokratie in Ostdeutschland. Nach der Wiedergründung des Landes Sachsen-Anhalt war er einer der gestaltenden politischen Akteure in- und außerhalb des Magdeburger Landtags.
Sein Engagement galt der Demokratie auch dort, wo sie gefährdet war. Als in den „Baseballschlägerjahren“ auch in Sachsen-Anhalt Asylunterkünfte brannten und Migrant*innen von Neonazis angegriffen wurden, war Betroffenheit Tschiches Sache nicht. Unter seinem Vorsitz gab die Fraktion der Bündnisgrünen im Landtag eine Untersuchung in Auftrag, die sich mit den Erscheinungsformen des Rechtsextremismus befasste und die gesellschaftliche Debatte darüber forderte. Hans-Jochen Tschiche ermöglichte den Dialog zwischen Politik und Zivilgesellschaft und das Gespräch darüber, wie die mühsame Graswurzelarbeit der Demokratisierung der Gesellschaft aussehen kann. So wurde er auch Gründungsvorsitzender von Miteinander e.V. und führte den Verein viele Jahre lang durch manche Stürme.
Wer mit Hans-Jochen Tschiche sprach, hörte einen Zeitzeugen, der viele Ereignisse, die heute Gegenstand historischer Betrachtung sind, nicht nur erlebt, sondern mitgestaltet hat. Er konnte lebendig von der Zeit des demokratischen Aufbruchs in der DDR erzählen. Hans-Jochen Tschiche war ein engagierter Demokrat, der einem klaren moralischen Kompass folgte und es nicht scheute, sich mit den Autoritäten seiner Zeit anzulegen. Auch den Menschenfeinden unserer Zeit hätte er eindrücklich Paroli geboten.
Sein Klarheit und sein Mut bleiben uns Vorbild und Ansporn.