Lothar König nervt. Er sitzt bei einer Veranstaltung zu Strategien gegen Rechtsextremismus ganz hinten in der letzten Reihe. Eben hat ein distinguierter Wissenschaftler einen Vortrag gehalten. Die Diskussion beginnt etwas zaghaft. Da meldet sich der Mann im karierten Hemd, die nackten Füße – im November – in Sandalen, das Haar wirr. König steht auf und widerspricht dem eben Gehörten vehement: Man möge es sich bei der Frage nach der Motivation junger Neonazis zur Gewalt nicht so leicht machen. Und dann berichtet er von seinen Erfahrungen, kontrastiert diese mit den gängigen Theorien der sozialen Arbeit. Lothar König redet eindringlich, leidenschaftlich, aber nicht agitatorisch. Das Publikum ist irritiert. Genervt. Wer ist der Mann, der eine wohltemperierte Diskussion kurz vor dem Mittagessen aus dem Takt bringt?
Der Mann, der aussieht, wie vielleicht Johannes der Täufer ausgesehen haben mag, wird 1954 bei Nordhausen geboren. Früh nimmt er einen unangepassten Weg in der DDR, protestiert gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings. Nach einer Lehre lässt Lothar König sich ab 1975 im Johannes-Falk-Haus Eisenach zum evangelischen Diakon ausbilden. In den diakonischen Ausbildungsstätten der DDR jener Jahre ändert sich gerade der Geist. Brave, autoritäre Frömmigkeit, die über Jahrzehnte das Selbstbild der Diakone prägte, war gestern. Im Johannes-Falk-Haus studiert ab Ende der 1960er Jahre eine Generation, die in Kirche und Gesellschaft die Autorität in Frage stellt, die Erziehung zur Mündigkeit Jugendlicher propagiert, und eine Musik hört, die von der Elterngeneration als „Affenmusik“ apostrophiert wird: Stooges, Rolling Stones, The Who. Als Lothar König zwei Jahre später in Jena Theologie studiert, ist die Stadt bereits ein Zentrum oppositionellen Geistes in der DDR. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs wirkte hier. Die „Junge Gemeinde Jena Stadtmitte“ ist ein landesweit bekannter Treffpunkt non-konformer Jugendlicher für Lesungen, Konzerte und Gottesdienste, der Stasi stets ein Dorn im Auge.
In den 1980er Jahren engagierte sich Lothar König in der „Offenen Arbeit“ der evangelischen Kirche, die unangepasste und oppositionelle Jugendliche sammelte und ihnen einen Ort bot. Ein Foto aus jenen Jahren zeigt ihn bei einer „Werkstatt“, also einer offenen Diskussionsveranstaltung in der Andreas-Kirchgemeinde Erfurt neben dem DDR-Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche. Ab 1986 war König Jugendpfarrer in Merseburg. In dieser Funktion wurde er durch die Stasi umfassend überwacht und geheimdienstlichen Maßnahmen ausgesetzt. König lässt sich nicht einschüchtern und engagiert sich 1989 öffentlich für das Neue Forum und einen demokratischen Umbau der Gesellschaft.
1990 übernahm Lothar König die Pfarrstelle der Junge Gemeinde Stadtmitte in Jena. Unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen modifizierte er das von Walter Schilling und Frieder Burkhard entwickelte Konzept der Offenen Arbeit. In das Zentrum der Aktivitäten der Jungen Gemeinde rückte neben sozialdiakonischen Fragen immer stärker die Auseinandersetzung mit der in Ostdeutschland dominanten rechtsextremen Jugendkultur. Nicht selten wurden Veranstaltungen der Gemeinde von Neonazis überfallen, Pfarrer König einmal schwer verletzt. Bereits damals, zu Beginn der 90er Jahre, warnte Lothar König vor den Folgen dieser rechten Jugendbewegung auf Ostdeutschlands Straßen. Auch die späteren Mitglieder des „NSU“ kannte er. Doch mit seiner Warnung blieb er lange Zeit sehr allein.
2013 musste sich König vor Gericht verantworten. Dem war eine Hausdurchsuchung vorausgegangen, die selbst das Amtszimmer des Pfarrers nicht verschonte. Ihm wurde vorgeworfen, Teilnehmende einer Demonstration gegen Neonazis zur Gewalt aufgerufen, Gewalttäter geschützt und die Arbeit der Polizei behindert zu haben. Im Prozess stellte sich heraus, dass all diese Vorwürfe haltlos waren und auf Falschaussagen basierten. Eine breite Solidaritätskampagne, die von Wolfgang Thierse und Manfred Stolpe unterstützt wurde, forderte ein Ende des Verfahrens gegen Pfarrer König. Es wurde schließlich eingestellt. Eigentlich hätte es einen Freispruch für Lothar König geben müssen.
Lothar König war ein religiöser Charismatiker eigener Art. Er war fromm, aber er frömmelte nicht. Lebensfroh sprach er den Genüssen von Kaffee und Tabak zu. Ging es um den Einsatz für andere, schonte er sich nicht. Er konnte unduldsam, und in der Unduldsamkeit wütend werden. Er rieb sich an Institutionen und Menschen, und diese sich an ihm. Aber in allem verlor er nie die Menschen aus dem Blick, mit denen er zu tun hatte. Seine unkonventionelle Art des Zugehens auf Menschen hatte etwas Unverstelltes. Floskeln und Phrasen waren seine Sache nicht. König war direkt und meinte es auch so. Er mutete den Leuten etwas zu. Aber er nahm jeden Menschen, der ihm gegenübertrat, ernst.
Pfarrer Lothar König war in einer weitgehend areligiösen Gesellschaft ein authentischer Zeuge des Glaubens – gerade für Menschen, für die Gott und Kirche keine Bedeutung hatten. Das brachte ihm beides ein: Hochachtung und Respekt, aber auch Irritation und Kontroversität. Pfarrer König war ein Ärgernis. Er machte es sich, seiner Kirche und der Gesellschaft, in der er jeweils lebte, nie leicht. In der DDR nicht, in der Bundesrepublik nicht. Er wagte Radikalität, weil sein Glaube ihn trug. Lothar König war ein Prediger – einer, der mahnte, sich nicht zufrieden zu geben mit dem schlechten Status Quo. Er war ein Pfarrer, der zur Umkehr rief, wie Johannes der Täufer: zum Leben, zur Wahrheit, zur Menschlichkeit. Jetzt ist Lothar König im Alter von 70 Jahren gestorben.