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„Reichsbürger“. Die unterschätzte Gefahr

DATUM

Über Jahre galten „Reichsbürger“ in erster Linie als ein Phänomen des „Paper Terrorism“: Sie lieferten sich mit Behörden schriftliche Wortgefechte, in denen variantenreich pseudo-juristische Gründe dafür aufgeführt wurden, warum das exekutive Handeln von Gerichtsvollzieher*innen, Polizist*innen und Standesbeamt*innen angeblich illegal und faktisch nichtig sei. Sie formulierten Thesen über die Nicht-Existenz der Bundesrepublik und entwickelten skurrile Gegenstaatsentwürfe. Damit wurden sie in der Öffentlichkeit, aber auch in Teilen der Sicherheitsbehörden, lange Zeit als Schrulle von Sonderlingen abgetan, die zwar die Behörden nervten, von denen aber keine ernsthafte Gefahr ausginge.

Dies war jedoch schon immer ein Trugschluss. Die Affinität der ideologisch sehr heterogenen Szene der „Reichsbürger“ zu Waffen ist hinlänglich bekannt. Der rhetorischen Eskalation, dies zeigen die zurückliegenden etwa Jahre, folgte immer öfter eine faktische Eskalation: Stalking und Bedrohung von Mitarbeiter*innen der Verwaltung, bewaffnete Angriffe auf Vollzugsbeamte oder die Selbstermächtigung zu exekutiven Maßnahmen.

Angesichts der multiplen gesellschaftlichen Krisen und deren Wahrnehmung in der Bevölkerung gewannen Elemente der „Reichsbürger“-Ideologie in den zurückliegenden Jahren zunehmend an Resonanz. Dies zeigte sich sowohl bei einem Teil der „Corona-Proteste“, als auch im Kontext der Mobilisierung zum sogenannten „heißen Herbst“ aus dem Kontext der extremen Rechten. Dabei hat sich die Szene der „Reichsbürger“ in den zurückliegenden Jahren diversifiziert. Im Kern sind drei Strömungen zu unterscheiden, die jedoch untereinander durchaus ideologische und organisationssoziologische Schnittmengen aufweisen: Souveränist*innen, rechtsextreme und antisemitische Reichsideolog*innen und Esoteriker*innen. Ihnen gemein ist die Delegitimierung des Staates und seiner Exekutive Hinzu tritt, dass Elemente der „Reichsbürger“-Ideologie ein Amalgam mit anderen verschwörungsideologischen Ideologieelementen eingehen und an Resonanz gewinnen.

In der Szene werden seit etwa zwei Jahren verstärkt Szenarien eines Staatszerfalls diskutiert, in deren Folge eigene Optionen zur Durchsetzung politischer Interessen nicht nur diskutiert, sondern auch gezielt operativ vorbereitet werden. Als Auftakt für eine solche Intervention gelten den Ideolog*innen etwa ein langandauernder Stromausfall, eine nicht mehr gewährleistete Versorgung mit Lebensmitteln oder der (Teil-)Zusammenbruch der öffentlichen Sicherheit. Diese Szenarien werden als Fanal für das eigene Handeln interpretiert, in welchem an die Stelle des Staates wahlweise vigilantistische Akteur*innen oder selbsternannte politische Repräsentant*innen treten sollen.

Niemand sollte sich von der vermeintlichen Abwegigkeit der „Reichsbürger“-Ideologie täuschen lassen: Die inhaltlichen Herleitungen mögen desperat wirken, erscheinen der Anhängerschaft aber als plausibles Deutungsangebot tatsächlicher und vermeintlicher gesellschaftlicher Krisen. „Reichsbürger“ sind eine sehr reale und nach wie vor unterschätzte Gefahr.