„Der 2020 verzeichnete Anstieg bei den antisemitischen Straftaten und Volksverhetzungsdelikten erklärt sich unter anderem aus dem Kontext der Proteste gegen die Corona-Eindämmungsmaßnamen in Sachsen-Anhalt. Diese werden in Halle, Magdeburg und im Burgenlandkreis von Strukturen und Personen der extremen Rechten dominiert und organisiert“, sagte Pascal Begrich, Geschäftsführer von Miteinander e.V. in Magdeburg.
„Die Proteste gegen die Corona-Politik haben sich im Laufe des letzten Jahres erheblich radikalisiert. Damit geht bei einigen Teilnehmenden eine hohe Gewalt- und Aggressionsbereitschaft einher, wie erst jüngst die Eskalationen der Querdenken-Kundgebung in Kassel wieder gezeigt haben.“, so Begrich weiter. „Zudem sind in der Interpretation der Corona-Pandemie sowohl bei den Protesten als auch in den Sozialen Medien antisemitische Deutungsmuster omnipräsent. In Verbindung mit der zunehmenden Verbreitung von Verschwörungsmythen werden so antisemitische Straftaten begünstigt und legitimiert.“ Begrich ergänzte: „Eine zentrale Rolle spielt der rechte Aktivist Sven Liebich, der mit seinen Anhänger*innen landesweit bei Protestaktivitäten auftritt. Dabei kommt es immer wieder zu Bedrohungen von Medienschaffenden und Akteur*innen von Gegenprotesten.“
Zum Hintergrund
Bereits Ende März 2020 – also unmittelbar nach Beginn des ersten „Lockdowns“ – waren in Sachsen-Anhalt Proteste gegen die Corona-Eindämmungsverordnungen der Bundes- und Landesregierung zu beobachten. Von Beginn an spielten Vertreter*innen des rechtsextremen Milieus eine Schlüsselrolle sowohl in der Organisation und der politischer Kommunikation als auch auf der Straße und im Internet. In Halle, Magdeburg und im Burgenlandkreis wurde die Organisation der Proteste binnen kurzem vollständig von Personen und Strukturen aus der extremen Rechten übernommen. Dies führte zu einer Radikalisierung, in deren Verlauf nicht mehr allein die Kritik an einzelnen Maßnahmen und Grundrechtseinschränkungen stand. In sozialen Netzwerken, auf mitgeführten Transparenten und in Redebeiträgen bei den Kundgebungen wurde regelmäßig auf antisemitische, verschwörungsideologische und rechtsextreme Inhalte Bezug genommen.
Auch überregional traten rechtsextreme Akteure aus Sachsen-Anhalt im Rahmen der Corona-Proteste in Erscheinung. So wurde z.B. am 7. November 2020 eine Versammlung der Bewegung „Querdenken“ in Leipzig von einem sachsen-anhaltischen Neonazi angemeldet. Dort folgten etwa 20.000 Menschen dem Aufruf unter dem Motto „Wir für das Grundgesetz“.
Antisemitisch konnotierte Deutungen der Pandemie und ihrer angeblichen Verursacher*innen sind in der Bildsprache der Transparente und Slogans bei „Querdenken“ omnipräsent. Hierzu gehören jene Plakate, die Prominente aus Politik, Medien und Wissenschaft in Häftlingskleidung zeigen. Hinzu kommen geschichtsverharmlosende Gleichsetzungen der Corona-bedingten Einschränkungen mit der Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus.
Die Mobilisierung gegen die Corona Maßnahmen kann in Sachsen-Anhalt als ein im Kern rechtsextremes Protestformat eingeschätzt werden.
Es ist unverkennbar, dass ideologische Schnittmengen zwischen den verschiedenen Protestmilieus existieren. Sie liegen in der Zustimmung zu antiliberalen, wissenschaftsfeindlichen und autoritären Einstellungen. Zugleich handeln Akteur*innen von „Querdenken“ aktionistisch und milieuübergreifend. Sie schaffen eine Protestzusammensetzung, die es in dieser Form zuvor nicht gab. So kam es im Verlauf der Pandemie zu einem bisher nicht gekannten Schulterschluss zwischen offen auftretenden Vertreter*innen der extremen Rechten sowie Strukturen und Personen, die bisher als bürgerlich galten, und die Nähe zu offen rechtsextremen Strukturen konsequent gemieden hatten.
Die Zahl der thematischen Kundgebungen und öffentlichen Versammlungen, wie Mahnwachen oder Spaziergänge, übersteigt jene des rechtsextremen Versammlungsgeschehens der vergangenen Jahre um ein Vielfaches. So konnten wir allein von Ende März bis Ende Dezember 2020 fast 600 Versammlungen mit Bezug zur Szene der Corona-Leugner*innen zählen. Dabei waren dort neben verschiedenen Verschwörungsideolog*innen auch alle Spektren der extremen Rechten – von AfD, NPD und Reichsbürger*innen bis hin zu völkischen Neonazis – vertreten.