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Radikalisierung des Protests.

DATUM

Die Initiative „Querdenken“ und ihre Demonstration am 7. November 2020 in Leipzig

Am 7. November 2020 folgten etwa 20.000 Menschen dem Aufruf von „Querdenken“ nach Leipzig, um  unter dem Motto „Wir für das Grundgesetz“ gegen die Einschränkungen im öffentlichen Leben aufgrund der Corona-Pandemie zu demonstrieren. Unter den Teilnehmenden befanden sich Akteur*innen sehr unterschiedlicher Milieus – Neonazis, Hooligans, „Reichsbürger*innen“, Esoteriker*innen, Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen. Obwohl ein Großteil der Demonstrierenden sich nicht an die Auflagen und die Hygienevorschriften hielt und aus der Kundgebung immer wieder Angriffe auf Journalist*innen ausgingen, ließ die Polizei die Organisator*innen über viele Stunden gewähren und den öffentlichen Raum besetzen. Mit dem folgenden Beitrag werfen wir einen analytischen Blick auf die Verfasstheit der hier auftretenden Bewegung und den Verlauf der Demonstration in Leipzig.

Leipzig als Protestplattform

Die ursprünglich in Baden-Württemberg ansässige Initiative „Querdenken“ hat mittlerweile bundesweit regionale Ableger bekommen, die unter ähnlichen Namen auftreten und vielerorts beinahe wöchentlich zu Kundgebungen mobilisieren. Auch in Sachsen-Anhalt gibt es entsprechende Akteur*innen, die z.B. in Magdeburg, Halle, Naumburg und Quedlinburg regelmäßig zu Protesten aufrufen. Zugleich bemüht sich „Querdenken“ auch mit zentralen Aktionen symbolische Wirkung zu entfalten, um die gesellschaftliche Sichtbarkeit des Protests zu erhöhen. Für eine mobilisierende  Erfahrung politisierter Selbstwirksamkeit der „Querdenker“ macht es einen qualitativen Unterschied, in der eigenen Stadt oder Region zu demonstrieren, oder sich zu einer bundesweiten Aktion mit mehreren zehntausend Menschen zu versammeln. So hat sich die Initiative nach Berlin auch Leipzig als bundesweite Protestplattform ausgesucht.

Politik der Bilder

Sowohl in Berlin als auch in Leipzig setzte „Querdenken“ auf eine Politik der Bilder und der medialen Repräsentanz. Mit dem Brandenburger Tor, dem Reichstagsgebäude in Berlin sowie dem Augustusplatz  und dem Völkerschlachtdenkmal in Leipzig wurden gezielt jene Orte für eine öffentliche Inszenierung gewählt, die als Bildikonen der deutschen Geschichte große symbolische Wirkung entfalten können. Vor historischer Kulisse inszeniert sich „Querdenken“ als Erbe und Nachfolger von Protestbewegungen. In Leipzig setzten die Organisator*innen der Kundgebung am 7. November 2020 bewusst auf ein politisches Reenactment des Umbruchs in der DDR und bedienten sich gezielt der Symbole der „Friedlichen Revolution“. So wurden Teilnehmende aufgerufen, Kerzen zu tragen, die u.a. vor der ehemaligen Bezirkszentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in Leipzig aufgestellt wurden. „Querdenken“ nimmt damit für sich in Anspruch, in der Tradition der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung zu stehen und gegen eine vermeintliche „DDR 2.0“ zu kämpfen. Wie bereits in anderen rechten Kampagnen werden dabei die Ostdeutschen erneut zu einem „revolutionärem Subjekt verklärt.“

Ideologische Diversität

Das Spektrum der Teilnehmenden an der Demonstration in Leipzig wies eine ideologische Diversität auf. Es reichte von vordergründig unpolitischen Milieus, die lebensweltlich in der Esoterik oder der Anthroposophie verankert sind, über Reichsbürger*innen und Selbstversorger*innen, Impfgegner*innen (Souveränist*innen) bis zu Aktivist*innen der extremen Rechten in der Hooligan- und Kampfsportszene sowie Akteur*innen von NPD und AfD. Ideologisch finden diese sehr unterschiedlichen Milieus unter Schlagworten wie „Corona-Diktatur“, „Impfdiktatur“ oder „Shutdown der Grundrechte“ zusammen. Einer der gemeinsamen Nenner sind dabei  Verschwörungserzählungen, die aufgegriffen und angepasst werden. Antisemitisch konnotierte Deutungen der Pandemie und ihrer angeblichen Verursacher*innen sind in der Bildsprache der Transparente und Slogans bei „Querdenken“ ebenso stark präsent, wie jene Plakate, die Prominente aus Politik, Medien und Wissenschaft in Häftlingskleidung zeigen. Hinzu kommen geschichtsverharmlosende Gleichsetzungen der Corona-bedingten Einschränkungen mit der Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus.

Rechte Mischszene und politische Symbiose

In den gegenwärtigen Analysen wird zurecht diese weltanschauliche und habituelle Diversität des Protests betont. Dennoch ist unverkennbar, dass ideologische Schnittmengen zwischen den verschiedenen Milieus existieren. Sie liegen in der Zustimmung zu antiliberalen, wissenschaftsfeindlichen und autoritären Einstellungen. Zugleich verhalten sich die Akteur*innen von „Querdenken“ symbiotisch zu einander, indem sie aktionistisch zusammenwirken, milieuübergreifend agieren und eine Protestrepräsentanz schaffen, die es in dieser Form bisher nicht gegeben hat.

Bei den „Querdenken“-Protesten handelt es sich mithin nicht um ein „Querfront“-Phänomen – also um das Zusammengehen zuvor unvereinbarer politischer oder weltanschaulicher Positionen – sondern um eine Mischszene, die als Teilmenge der extremen Rechten zu verstehen ist. Die Besetzung des öffentlichen Raumes in Gestalt einer eigentlich untersagten Demonstration um den Innenstadtring Leipzigs sowie die Angriffe auf Journalist*innen und unbeteiligte Bürger*innen (nicht nur) durch Neonazis zeigen, dass die von „Querdenken“ propagierte Friedfertigkeit ihres Protests dort in Gewalt kippt, wo sich die Gelegenheit dazu bietet.

„Querdenken“ als Bewegung

Zweifelsohne hat „Querdenken“ mittlerweile den Status eines Bewegungskerns bereits hinter sich gelassen und formiert sich als heterogene Organisationsstruktur im Sinne einer sozialen Bewegung. Eine Gefahr für unsere demokratische Gesellschaft geht dabei nicht nur von einem Schulterschluss zwischen militanten Hooligans und Neonazis mit habituell gemäßigt auftretenden anderen Milieus aus, sondern auch von einem möglicherweise wachsenden Mobilisierungpotential. „Querdenken“ könnte sich in seiner strategischen Kommunikation erfolgreich die Geschichte der „Friedlichen Revolution“ in Ostdeutschland aneignen, um mit dieser im Rücken weiterhin Tausende gegen die sogenannte Corona-Diktatur auf die Straße zu bringen. Gefahren für die Gesellschaft ergeben sich auch aus der bewussten Missachtung der Regeln zur Vermeidung von Infektionen und der wissenschaftsfeindliche Negierung der Pandemie. Zugleich werden, wie am 7. November in Leipzig zu sehen, neue Aktionsräume für militante Neonazis geschaffen. Fatal sind in dieser Hinsicht Verharmlosung von „Querdenken“ durch Medien und Politik sowie das bisher weitgehend uneingeschränkte Gewährenlassen auf der Straße durch Polizei und Justiz.